Während hierzulande dramatische Cliffhanger bei Serien oder ständige Zusammenfassungen in Magazinen die Zuschauer zum Verweilen - und dadurch zum Quotensteigern - animieren sollen, feiert in Norwegen "Slow TV" Erfolge mit rekordverdächtigen
Einschaltquoten. Der staatliche Sender NRK füllt Stunden und Tage mit Bildern
von Landschaften, Holzfeuern und Angeln - und das zur besten Sendezeit. "Es ist
Reality TV im wahrsten Sinne des Wortes: Etwas Authentisches, das ohne
Bearbeitung in Echtzeit gezeigt wird", sagte NRK-Programmdirektor Rune
Moeklebust.
Ins Leben gerufen worden war das Konzept 2009, als die
Zugstrecke Bergen-Oslo ihren 100. Geburtstag feierte. Die landschaftlich
spektakuläre Fahrt von sieben Stunden und 16 Minuten filmten die Produzenten in
voller Länge mit Bordkameras, lange, dunkle Tunnelstrecken füllten sie mit
Archivmaterial. Die Idee war originell und einfach zu produzieren,
so dass der kommerziell unabhängige öffentliche Sender sie bald umsetzte. Mit
überwältigendem Erfolg wurde das Experiment schließlich auf NRK2 ausgestrahlt:
Etwa 1,2 Millionen Zuschauer, fast ein Viertel der norwegischen Bevölkerung,
verfolgten die Reise zumindest teilweise aus ihrem Wohnzimmer. "Als ich ein
paar Tage später fragte, ob ich fünfeinhalb Tage Livesendung vom
Küstenexpress (eine Kreuzfahrt durch die Fjordlandschaften an der Küste)
senden kann, bekam ich zur Antwort 'ja, natürlich'", erzählte Moeklebust weiter.
Und wieder war es ein durchschlagender Erfolg: 3,2
Millionen TV-Zuschauer sahen phasenweise zu, Hunderte Schaulustige begrüßten
den Küstenexpress in verschiedenen Häfen. Die ruhig dahinplätschernde Sendung
war für manche wie eine Droge, der 82-jährige Knut Grimeland zum Beispiel konnte die
Augen kaum von der Glotze wenden: "Es ist schwer zu sagen, wie viele Stunden
ich schlief, aber nicht viele", gestand er. "Ich habe ab und zu ein
bisschen auf dem Sofa gedöst, aber ins Bett habe ich es fünf Tage lang nicht
geschafft." Andere wähnten sich zuletzt gar selbst an Bord: Ein Zuschauer
erzählte, wie er in seinem Wohnzimmer nach dem Gepäck suchte, als der Zug von
Bergen nach Oslo in den Zielbahnhof einlief.
Nicht nur Reisefilme wirken hypnotisierend auf das
norwegische Fernsehpublikum. Auch Filme über das Lachsfischen, vom Stricken
oder vom perfekten Holzfeuer werden gezeigt. Das Rezept ist simpel: Einer
langen Einführung mit historischem Hintergrund folgt eine noch längere Studie
der eigentlichen Aktivität. Stricken beispielsweise beginnt beim Schafscheren
und endet mit dem letzten Nadelstich an einem Pullover. "Slow TV ist für alle Bevölkerungsgruppen
attraktiv: Junge Leute sind fasziniert vom Reiz des Neuen und Ungewöhnlichen,
ältere Zuschauer finden das Thema oder die Reise selbst interessant", sagte
Moeklebust. Für manche bedeute es eine willkommene Pause in einer immer
hektischeren Gesellschaft. "Wenn die meisten Sender sich für das gleiche
Programmformat entscheiden, ist es verlockend, in einer Nische gegen den Strom
zu schwimmen", ermittelte der Soziologe Arve Hjelseth von der
Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität in Trondheim. Slow TV sei eine
Chance für die Leute, sich hinzusetzen, zu entspannen und nachzudenken.
Ob die norwegische Spezialität exportiert werden kann,
ist fraglich. In den USA wurden die 134 Stunden Filmmaterial vom Küstenexpress
zu einer einstündigen Sendung zusammengeschnitten. Doch Moeklebust blickt
optimistisch in die Zukunft: Er erwägt nun einen Film zum Thema Zeit. Nach der
Herstellung einer Uhr will er zeigen, wie die Minuten und Stunden vergehen. Da können die Kameraleute sogar einen 24-Stunden-Tag durchhalten :-)